Lokalgeschichte und Nationalsozialismus

„Es wird Zeit, dass alle Menschen begreifen, dass Barbarei nicht vom Himmel fällt.
Sie wird immer in der Kultur ausgebrütet, aber eben nicht in jeder. Und sie wird in der Kultur ausgebrütet unter spezifischen, politischen, gesellschaftlichen, sozialen und rechtlichen Bedingungen. Sie kommt nicht über Nacht vom Himmel, steht vor der Tür und sagt ‚Da bin ich’.“
Ivan Ivanji, Schriftsteller und Ãœberlebender des Konzentrationslagers Buchenwald

Der Kreisheimatbund Peine e.V. sieht sich auch bei der Behandlung des Themas „Nationalsozialismus“ seinem Anspruch verpflichtet, eine reflektierte Lokal- geschichtsschreibung auf dem derzeitigen Stand der Forschung voranzubringen.
An diesem Ansatz gibt es gelegentlich Kritik, die gegenwärtig besonders deutlich in zwei Leserbriefen in der PAZ vom 28. November 2013 (Seite 21) ausgedrückt wird.
Darin wird dem 2. Vorsitzenden des Kreisheimatbundes Jens Binner „Geschichtsklitterung“, „Lüge“, „Verun- glimpfung“ und Leichtfertigkeit vorgeworfen.
Da unsere Veranstaltungen zur Geschichte des Nationalsozialismus zu den bestbesuchten unseres Programms gehören und wir dabei für unsere inhaltliche Arbeit viel Zuspruch erfahren, fühlen wir uns verpflichtet, auf diese Kritik einzugehen und die qualitativen Grundsätze unserer Darstellungen offenzulegen.

Einer der inhaltlichen Schwerpunkte der Veranstaltungen und Projekte des Kreisheimatbundes Peine e.V. ist die Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus in Stadt und Landkreis Peine. Zu den verschiedenen Aspekten dieses Themas gibt es regelmäßig Vorträge, wir haben Informationstafeln für den Platz der ehemaligen Synagoge und den jüdischen Friedhof in Telgte gestaltet, beteiligen uns an der Aktion „Stolpersteine“ und bieten Stadtführungen an. Auch mehrere Publikationen liegen dazu vor, darunter zwei Sammelbände zur Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg[1] und zur Geschichte der jüdischen Gemeinde.[2] Ohne diese Aktivitäten von unserer Seite aus, hätte es in den vergangenen Jahren vermutlich kaum eine Veranstaltung zur lokalen Geschichte des Nationalsozialismus gegeben.

Inhaltlich wird dieser Bereich vom 2. Vorsitzenden des KHB Peine e.V. Dr. Jens Binner verantwortet. Er ist Historiker mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus / Zweiter Weltkrieg und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Friedrich-Schiller-Universität Jena an der Neugestaltung der Dauerausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald mit

Der KHB Peine e.V. sieht sich auch bei der Behandlung des Themas „Nationalsozialismus“ seinem Anspruch verpflichtet, eine reflektierte Lokalgeschichtsschreibung auf dem derzeitigen Stand der Forschung voranzubringen. An diesem Ansatz gibt es gelegentlich Kritik, die gegenwärtig besonders deutlich in zwei Leserbriefen in der PAZ vom 28. November 2013 (Seite 21) ausgedrückt wird. Darin wird Jens Binner „Geschichtsklitterung“, „Lüge“, „Verunglimpfung“ und Leichtfertigkeit vorgeworfen.
Da unsere Veranstaltungen zur Geschichte des Nationalsozialismus zu den bestbesuchten unseres Programms gehören und wir dabei für unsere inhaltliche Arbeit viel Zuspruch erfahren, fühlen wir uns verpflichtet, auf diese Kritik einzugehen und die qualitativen Grundsätze unserer Darstellungen offenzulegen.

Generell ist eine Vermittlung zwischen Wissenschaft und populärem Alltagswissen schwierig zu gestalten – dies trifft nicht nur auf die Geschichtswissenschaft zu, sondern ebenso zum Beispiel auf die Naturwissenschaften. In dem speziellen Fall der Lokalgeschichte des Nationalsozialismus stehen sich eine stark ausdifferenzierte Fachwissenschaft mit einer kaum überblickbaren Fülle an einschlägigen Veröffentlichungen und ein simplifiziertes, familiär tradiertes Geschichtsverständnis der Erlebnisgeneration, das vor allem der Entlastung dient, gegenüber. In den beiden Leserbriefen kommt dies deutlich zum Ausdruck, beginnend mit der Forderung, dass nur diejenigen über diese Periode urteilen dürfen, die sie auch selbst erlebt haben, ein Anspruch, der bei der Beschäftigung mit anderen historischen Epochen nicht gestellt wird. Das Gesamtbild der nationalsozialistischen Gesellschaft, das dann gezeichnet wird, wurde einmal die „Ufo-Theorie“ genannt. Danach sind 1933 die Nationalsozialisten quasi aus dem Nichts aufgetaucht, haben schwere Verbrechen begangen, dabei die Deutschen durch brutalen Terror am Widerstand gehindert und sind dann 1945 ebenso plötzlich wieder verschwunden. Bei dieser Denkart sind nur Hitler und seine kleine Führungsclique für die Verbrechen verantwortlich, während die normalen Deutschen keine Möglichkeit hatten, einzugreifen.

Wenn es tatsächlich so gewesen wäre, gäbe es keinen Grund mehr, sich heute noch mit dieser Zeit zu beschäftigen. Doch diese Sichtweise widerspricht nicht nur der Erfahrung der Opfer, die wesentlich häufiger von Ablehnung und Hass durch ihre Nachbarn berichten als von Zuspruch und Hilfe.[3] Auch die Fachwissenschaft zeichnet seit mehreren Jahrzehnten ein wesentlich differenzierteres Bild,[4] wie man mittlerweile in jedem Schulbuch der gymnasialen Oberstufe nachlesen kann. Natürlich waren Gewalt und Terror wesentliche Kernelemente des Nationalsozialismus. Doch sie allein hätten nicht ausgereicht, um die Diktatur zu etablieren und bis zur totalen Niederlage funktionsfähig zu halten. Die Forschung hat gezeigt, dass die Handlungsspielräume – und damit auch die Verantwortlichkeiten – der einfachen Deutschen größer waren, als man ursprünglich angenommen hat, und dass es zahlreiche Motive gab, sich den Verbrechen nicht entgegenzustellen oder sich sogar daran zu beteiligen. Und dazu gehörten nicht nur Angst, sondern ebenso Gleichgültigkeit, Neid, Aussicht auf materielle oder soziale Besserstellung und zu einem nicht geringen Anteil auch eine zumindest teilweise ideologische Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus. Dieses komplexe und vielschichtige Problem wird in der Fachwissenschaft derzeit unter dem Stichwort der „Volksgemeinschaft“ intensiv diskutiert.[5]

Nur wenn man sich dieser Erkenntnis stellt und genau die einzelnen Akteure mit ihren Handlungsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten benennt, kann man aus der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland etwas für die Gegenwart und die Zukunft lernen. Dabei ist die Erkenntnis fundamental wichtig, dass zahllose kleine und kleinste Rädchen ineinandergreifen mussten, um die Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 zu ermöglichen. Gerade auf lokaler Ebene ist die Herausarbeitung dieser Strukturen naturgemäß ein schwieriger Prozess, weil die Handelnden einem nahe stehen oder man ihre Familien kennt. Aber für die Demokratie ist es überlebenswichtig, dass klar herausgestellt wird, dass es auf jeden Einzelnen ankommt, auf seine Gedanken und sein Handeln. Denn in einem haben die Leserbriefschreiber recht: wenn die Diktatur erst einmal etabliert ist, wird Widerstand ungleich schwieriger und gefährlicher.

Aus diesem Grund haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die differenzierte Darstellung in der gegenwärtigen Fachwissenschaft auf die lokale Ebene zu übertragen. Dazu gehört natürlich auch die Nennung von Namen, doch dabei geht es nicht so sehr um die Personen als solche, sondern vielmehr um ihre jeweilige Stellung innerhalb des kleinstädtischen Beziehungsgeflechts. Nur so können wir sehen, wie sehr der Nationalsozialismus nicht etwas von oben Aufgepfropftes, Fremdes war, sondern auch etwas, was in Peine selbst gewachsen ist und von Personen aus den unterschiedlichsten Interessen gefördert und durchgesetzt wurde. Das eindimensionale Geschichtsbild, das in den Leserbriefen aufscheint, leugnet dagegen jede Verantwortlichkeit, macht alle Deutschen zu Opfern und erklärt uns somit nichts, sondern lässt uns unreflektiert in dem Staunen zurück, dass eine so kleine Gruppe von Tätern ein ganzes Volk so lange unterdrücken konnte.

Der Vorstand des Kreisheimatbundes Peine, Dezember 2013

Dr. Ralf Holländer, 1. Vorsitzender
Dr. Jens Binner, 2. Vorsitzender
Katja Schröder, Schriftführerin
Martin Weil, Schatzmeister

[1] Jens Binner (Hg.): … und trug das Zeichen OST. Zwangsarbeit in Stadt und Landkreis Peine (Schriftenreihe des KHB, Bd. IV), Peine 2002.
[2] Jens Binner (Hg.): Die jüdische Gemeinde in Peine vom Mittelalter bis 1942 (Schriftenreihe des KHB, Bd. VI), Peine 2009.
[3] Am Beispiel der Verfolgung der Juden im einzelnen nachzuvollziehen bei: Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bde., München 1998 und 2006.
[4] Unter anderem ausgehend von der Entmystifizierung der Wehrmacht: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944, Hamburg, 2. erw. Aufl. 2002.
[5] Die Homepage des niedersächsischen Forschungskollegs „Volksgemeinschaft“ gibt einen ersten Einblick in diese Bemühungen: http://www.foko-ns.de/.

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Aktuelle Grundlagenliteratur zur Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland:

Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005.

Frank Bajohr u. Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009.

Wolfgang Benz: Geschichte des Dritten Reiches, München 2000 (auch erhältlich als Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de)

Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005.

Ders.: Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1987.

Geschichte des Nationalsozialismus, hg. v. Manfred Hettling, Martin Sabrow und Hans-Ulrich Thamer (Grundkurs Neue Geschichte), Göttingen 2008.

Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, München, 2009.